Fingerübungen

Fingerübungen

Fingerübungen sind kleine Texte. Man nehme: ein paar Vokabeln und ein Szenario und versuche spontan eine Geschichte daraus zu machen. So kann man seine Kreativität üben. Viel Spaß

Ein Beispiel:

Fingerübung „Laterne laufen“
Die vorgebenen Vokabeln: Fan Schal, Flipflops, Schneeflocke, Fledermaus, Chips

Die Geschichte:

Das schlimmste am November ist, dass alle Eltern meinen, mit ihren Kindern Laterne
laufen zu müssen. Haben sie sich solch einen Zug schon mal angesehen. Man muss
kein Psychologe sein, um zu kapieren, was da gerade passiert.
Da ist der eine Vater, der den Herbst und erst recht den kommenden Winter hasst. Er
hat noch nicht mal einen anständigen Schal, weswegen er einen Fanschal seines
Lieblingsvereins um den Hals trägt. Seiner Frau geht es ähnlich. Man sieht ihr von
Weitem an, dass sie lieber mit ihren Flipflops zum Pool gehen würde, als hier mit
ihren Stiefeln und eingepackt in eine Übergangsjacke um die Pfützen herum zu stapfen.
Leider haben sie in einem unüberlegten Moment, nach einer steilen Party nach
der sie beide nicht mehr so richtig über Verhütung nachgedacht haben, ein Kind
gezeugt. Und das tappst da jetzt vor ihnen lang und strahlt über das ganze Gesicht,
was man ja gut sehen kann durch den Lichtschein der Laterne. Bestimmt heißt es
Henning oder so. Ja, sie lieben es, aber es war eben kein Wunschkind. Zumindest
nicht in dem Moment ihres Lebens. Es hätte später kommen sollen. Viele Sommer
am Pool später.
Daneben läuft ein Mädchen in blassrosa-Jacke. Vom Designer aber second-Hand
erstanden. Bei allem, was fliegt, zeigt das hochbegabte Kind sofort drauf und ruft laut
„Fledermaus“ und die alleinerziehende Diplom-Biologin überlegt krampfhaft, was die
richtige Antwort darauf ist. Denn natürlich ist das falsch, aber ihr Kind ist ja furchtbar
schlau, dass hat der Selbsttest im Internet eindeutig bewiesen, auf alle Fälle schlauer
als Henning und soll auf keinen Fall demotiviert werden, doch ebenso wenig soll sich
in das Köpfchen des Wunschkindes, leider nicht vom Wunschvater, aber man kann
nicht alles haben, die falsche Spezies einbrennen. Hier gibt es keine Fledermäuse. In
der Scheiß Dunkelheit kann man ohne Nachtsichtgerät sowieso nicht erkennen, was
was ist.
Dahinter läuft Jerome, der nicht mitwollte und jetzt nur mitläuft, weil man das so
macht im November, weil das alle Kinder so machen, weil die anderen bestimmt
ganz traurig sind, wenn er nicht dabei wäre, weil das Mami früher auch immer so
gemacht hat und weil ihm eine Tüte Chips versprochen wurde. Er schaukelt seine
Laterne gelangweilt hin und her und seine Mutter singt das Laterne-Lied so laut mit,
das sie hinterher begeistert erzählen kann, wie schön alle mitgesungen haben, wobei
sie den Text vom Faltblatt abliest wie Udo Lindenberg seine Texte vom Teleprompter
und man sich fragt, was peinlicher ist.
Luise beschwert sich lautstark bei ihrer männlichen, erwachsenen Begleitperson,
dass es keine Schneeflocken schneit. Zu einem Laternenumzug braucht es Schneeflocken.
Sie bleibt dauernd stehen und schmollt und wird von der männlichen Begleitperson
mehr oder weniger liebevoll gebeten, weiterzugehen und das Ganze bitte
nicht so eng zu sehen. Die männliche Begleitperson ist nur dabei, weil die Mutter
heute mit Rotznase im Bett liegt und er seit ein paar Wochen auch mal ganz gerne
bei der Mutter im Bett liegt, und das, obwohl er nie Kinder wollte und auch keine Frau
mit Kind (buy one, get one Free – kam für ihn nicht in Frage). Dass sie ihm das aber
erst nach der ersten Nacht verraten hat, und er deswegen auch ein bisschen sauer
war, einerseits auf sie, dass sie das nicht früher gesagt hat und auf sich, weil er nicht
früher gefragt hat und nun nach der ersten Nacht, waren die Schleusen geöffnet und
die Hormonströme nicht mehr aufzuhalten, war halt so eine Sache, weswegen er der
Mutter diese Bitte, die bockige Tochter zum Laterne-laufen zu begleiten, nicht
abschlagen konnte, sollte er Lust verspüren nach abebben des Infektes wieder den
Platz im Bett der Mutter einnehmen zu wollen. Und so tappste er hinterher, schaute
immer wieder auf sein Handy und zählte die Minuten, bis das Spektakel vorbei war.
Das sind nur drei Schicksale von tausenden, die demnächst wieder auf Deutschlands
Straßen und Wegen zu beobachten sein werden. Viel Freude bei den Studien.

Fingerübung „Planetarium“

Vokabeln: Aperol Spritz, Lego City, Filzmaler, Ladekabel, Hörgeräte

Die Geschichte:

„Ich werde wahnsinnig, wenn ich darüber nachdenke“ murmelte er vor sich hin. „Das
ist mir zu viel, ehrlich“ sagte er nun etwas lauter und deutlicher und wandte sich zu
seiner Frau.
„Ich komme mir klein und unbedeutend vor, wenn ich über die Unendlichkeit nachdenke.
Wo hört das auf? Was kommt dahinter? All diese Fragen. Die erzeugen bei
mir keine Neugierde. Sie ängstigen mich. Das ist keine Demut, die ich empfinde vor
der Großartigkeit der Schöpfung, wer immer die auch verbrochen hat. Ich fühle mich
von diesem Szenario eher gedemütigt.“
Sie griff nach seinem Arm und sagte nichts, sondern ließ die Worte nachhallen.
Außerdem war sie sich sicher, dass er noch nicht fertig war.
„Meine Welt ist, dass ich mit dir in einer Bar sitzen und Aperol Spritz genießen
möchte. Ich finde es super, wenn die Kinder mit Filzmalern auf der Tapete rumschmieren
und wir uns darüber aufregen und auch wieder nicht, weil wir sie so lieben
und das Gekrakel eigentlich auch ganz hübsch aussieht. Ich liebe es, wenn ich das
Ladekabel finde, das du stundenlang gesucht hast. Und wenn mir dann nebenbei
noch der Abholschein für Mutters Hörgeräte in die Hände fällt und ich so tun kann,
als hätte ich die ganze Zeit gewusst, wo der ist. Und ich liebe es, mit den Kindern in
die Lego-City zu gehen, ihnen dabei zuzusehen, wie die Augen glänzen und hinterher
mit ihnen einen Berg von Pommes zu essen.“
Sie gingen weiter Arm in Arm an großen Wänden vorbei mit Panorama-Fotos aus
dem Weltall und den Erläuterungen in drei Sprachen daneben. Sie lasen keine einzige.
Er drehte seine Frau zu sich, so dass er ihr in die Augen schauen konnte.
„Das ist meine Welt. Da fühle ich mich zuhause. Die kann ich halbwegs erfassen und
da bin ich wer. Weil du mir das Gefühl gibst, wichtig zu sein. Im Weltall bin ich ein
Niemand. Da kann mir keiner so einfach erklären, dass ich hier einen Job habe,
ernsthaft gewollt bin von der ganz großen Regierung und das es mit der Welt etwas
macht, wenn ich nicht da wäre. Bei dir ist es das genaue Gegenteil und deswegen
bin ich lieber zuhause als im Planetarium.“ Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss.

Fingerübung „Sonnenuntergang“

Vokabeln: Boot, Delfin, Traum, Sandale, Machete

Die Geschichte:

Was ich heute nach geträumt habe, darf ich dir gar nicht erzählen.
Warum nicht? Klar? Ich will´s wissen.
Ernsthaft?
Logo.
Na gut. Ich habe dich gewarnt. Eine Frage vorweg: wo bist du gerade und was
machst du?
Ich bin in meinem Wohnzimmer und liege auf dem Sofa.
Bist du allein?
Ja. Wird es so schlimm?
Wie gesagt, ich habe dich gewarnt.


Sie überlegte, wie sie all die Bilder, die sie heute Nacht geträumt hatte in Worte
fassen könnte. Und vor allem, wie die ganzen Schauer, die ihr wieder und wieder
über den Rücken gelaufen waren. Sie war mitten in der Nacht von dem Traum aufgewacht
und war so erregt, dass sie sich mit einem Finger innerhalb von Sekunden
zu einem unfassbaren Höhepunkt bringen konnte.


Wir waren irgendwo am Meer. Türkisgrünes, kristallklares Wasser. Kilometerlanger
Strand mit feinstem, weißen Sand. Vermutlich eine Insel in der Südsee.
Klingt schon mal super.
Wir waren mit einem Boot gekommen und hatten es auf den Sand gezogen und vertäut.
Die Fahrt war schon romantisch. Wir sahen bunte Fische in dem Wasser und
Korallen. Und sogar ein Delfin grüßte von Weitem.
Sehr romantisch. In der Tat.
Wir fühlten uns, wie die ersten Menschen. Ich stellte mich vor dir hin und zog mein
Shirt und meinen Bikini aus und streifte die Sandalen ab.
Wow. Die Zeilen machen mich langsam etwas nervös.
So hast du im Traum auch geschaut und es mir gleichgetan. Wir standen uns so
gegenüber. Der Wind kühlte etwas die sonnengewärmte Haut. Und wir genossen den
Anblick.
Ich bin etwas erregt, wenn ich das so offen sagen darf.
Ja, darfst du. Immer. Warst Du in dem Traum übrigens auch. Du darfst dich auch
anfassen. Tu dir keinen Zwang an.
Mach ich.
Schön zu wissen. Direkt am Strand standen mächtige Palmen. Du gingst zurück zum
Boot, denn in einem Fach lag ein richtig großes Messer. Wie so eine Machete. Du
schnittst damit einige große Blätter ab und legtest sie auf den Strand. Darüber
unsere Badetücher.
Ein Nestbau. Ich musste bestimmt aufpassen, nicht aus Versehen etwas anderes
anzuschneiden, oder?

Hihi. Ja, kann sein. Daran erinnere ich mich nicht mehr. Auf alle Fälle legten wir uns
dann auf unser „bed in paradies“ und wir vielen übereinander her.
Du machst mich ganz schön heiß, ehrlich.
Nur ein Traum. Sorry. Ich musste dich jetzt anfassen und du mich. Und es brauchte
nicht viel. Ich setzte mich auf dich und genoss es dich in mir zu spüren.
Hey, Lady. Ich kann bald nicht mehr…
Mach doch. Ich habe auch zwei Finger an meiner Vulva. Ich muss das hier diktieren,
weil ich nur eine Hand frei habe. Spürst du mich?
Ja, ich spüre dich. Ich möchte, dass wir zusammen kommen.
Im Traum war das so. Moment, ich muss eben das Handy ganz weglegen.
Ich auch.

Fingerübung „Allein im Hotel“

Vokabeln: Lesezeichen, Streckverband, Käsefondues, Kichererbsen, Zahnpasta

Die Geschichte:

Wie gern hätte er sich mit Martha getroffen. Er steckte das Lesezeichen ins Buch,
nahm die Brille ab und hing seinen Gedanken nach, während um ihn herum das Treiben
der Lobby vor sich ging. Es ist eine komplizierte Liebe. „Einfach kann jeder“
hatte Martha zuletzt gesagt. Sie seien beide vom Gebrauchtwagenmarkt. Sie hätten
Geschichte. Ein paar Beulen und Kratzer. Marthas Leben habe sich zwischendurch
angefühlt, als sei ihr ein Streckverband um Herz und Hals gelegt worden. Der sie
zuschnürte und die Luft zum Atmen nahm, hatte sie gesagt. Und als sie neulich
Humus zubereitete und die Kichererbsen abgoss, sei es gewesen, als habe sie der
Gedanke gefunden. Der Gedanke, das Leben nicht als gegeben hinzunehmen, sondern
es zu ändern. Es gab keinen Grund, einen leblosen Alltag zu leben, nur um… ja,
warum eigentlich? Das war die Frage. Er hatte sich wiedergefunden, in dem, was sie
erzählte. Von all den Sackgassen, den ehemals bunten und prallen Luftballons, die
nun luft- und lustlos in der Ecke verstaubten. So fühle sich ihr Leben an und er
gestand sich zu, das er keine besseren Metaphern fand. Und als sie vor drei Monaten
bei Freunden zum Käsefondue eingeladen waren und er zufällig neben Martha
saß, hatte er die Wärme gespürt, die ihn durchfloss, wenn sie ihn ansah oder wenn
sich unter dem Tisch zufällig ihre Beine berührten. Und die Euphorie, die der
Gedanke an einen Neuanfang in sich trägt, trug ihn durch den Alltag.
Und heute wollten sie einen gemeinsamen Abend miteinander verbringen und sich
anschließend ein Zimmer teilen. Doch nun die Absage. „Es tut mir leid. Liebe Grüße,
Martha“ stand auf dem Display.
Er stand auf, nahm seine Jacke und schlenderte durch die Tür auf den Bürgersteig.
Um die Ecke war eine Drogerie. Er hatte seine Zahnpasta vergessen. Und wollte
eigentlich Marthas nehmen.

Fingerübung „Nebenbuhler“ Version 1

Vokabeln: Heizkissen, Traubensaft, Nagelschere, Bretterkiste, Pink

Die Geschichte:

Ich erwürge ihn mit dem Kabel des Heizkissens. Zerschneide ihn mit einer Nagelschere
in kleine Würfel, dass das Blut sich auf dem Boden verteilt, wie eine umgefallene
Flasche Traubensaft. Dann lege ich ihn in eine pinke Bretterkiste und lasse
ihn verdörren. Auf das er es nie wieder wage, meiner Liebsten schöne Augen zu
machen.

Fingerübung „Nebenbuhler“ Version 2

Vokabeln: Heizkissen, Traubensaft, Nagelschere, Bretterkiste, Pink

Die Geschichte:

„Seit wann geht das?“
Die Frage hallte nach. Gefolgt von einem Loch aus Stille. Sylvia rührte sich nicht. Die
Augen wanderten aufgeregt durch den Raum auf der Suche nach Halt. Wie ihre
Gedanken, die auf der Suche nach den richtigen Sätzen waren. Sie griff nach der
Nagelschere, die auf dem Tisch lag und legte sie zurück in das pinke Schminktäschchen.
Eben noch hatte er hier bei uns in der Küche gesessen, dachte er. Sein Glas mit dem
Rest Traubensaft stand noch da. Er versuchte, sich an die Atemtechnik zu erinnern,
die er in einem Stressbewältigungskurs erlernt hatte. Bewusst atmen. Klang damals
im ersten Moment bescheuert. Doch hatte es tatsächlich etwas ausgelöst. Sylvia
schlug ihre Beine übereinander. Zum dritten Mal, seit die Stille im Raum war. Ich
lasse ihr Zeit, dachte er, und fragte nicht nach. Versuchte den Moment auszuhalten.
Obwohl er sich fühlte, als habe jemand unter ihm ein überdimensioniertes Heizkissen
angeschaltet.
Das Aftershave liegt in der Luft, hatte Grönemeyer einst gesungen. Und „Was soll
das“ wollte er auch fragen. Sie hatten sich auf eine freie Beziehung geeinigt. Sie
wollten nicht verklemmt und einengend miteinander umgehen. Freiheit in der Partnerschaft
war ihr Motto. Sie kannten das nicht, sich ständig zu fragen: Wo warst du?
Was machst du? Warum triffst du dich mit der Person? Wieso hat das so lange
gedauert? Diese bürgerliche Scheiße wollten sie nicht. Wenn Sylvia mit Mike zum
Squashspielen ging, wünschte er viel Spaß und machte sich keine Gedanken, wenn
sie erst mitten in der Nacht nach Hause kam. Sie kam ja nach Hause und das war
das wichtigste. Er mochte nun einmal kein Squash. Sylvia liebte es. Und natürlich
könnte er im Kopfkino lauter Filme schauen. Mike und Sylvia verschwitzt. Mike und
Sylvia nur durch dünne Sportkleidung voneinander getrennt. Mike und Sylvia
zusammen in der Sauna nach dem Sport. Mike und Sylvia beim Sundowner auf der
Terrasse des Squash-Centers. Kann er machen. Macht er aber nicht.
Sie fragte auch nicht, wenn er mit Katharina essen ging. Und mit der war er sogar
zwei Jahre zusammen gewesen. Mit ihr war er sogar auf einem Festival gewesen.
Ein Ding der Unmöglichkeit für Sylvia. Die Freude an der Verwahrlosung, wenn man
drei Tage auf dem Gelände zeltet und sich im Wesentlichen von Nachos und Dosenbier
ernährt, kam für sie nicht in Frage. Katharina fand das super. Sie waren mit dem
Bulli hingefahren und er hatte im Vorzelt geschlafen. Katha drinnen. Die erste Nacht.
Die Zweite hatten sie dann nebeneinander geschlafen. Und ja, er hätte auch gerne
mit ihr geschlafen. Es war warm. Sie waren voller Euphorie und positiver Energie.
Und die Gelegenheit war auch da. Im Nachbarzelt taten sie es auch, wie zu hören
war. Doch sie hatten auch wenig geschlafen und zu viel getrunken. Und vor allem,
war er das Wochenende zuvor mit Sylvia in einem Appartement an der Ostsee
gewesen und sie hatten die drei Tage nicht viel mehr gemacht, als hemmungslos
übereinander herzufallen. Davon war er noch so erfüllt, dass er immun gegen die
Versuchung war.
Er hatte das Sylvia alles erzählt. Transparenz als Garant für die Stabilität ihrer Beziehung.
Und nun Mike. „Zu einer betrogenen Nacht, hätt ich vielleicht nichts gesagt.“
Aber mit einem anderen hier in der Wohnung. Auf unserem Sofa. Oder weiß der
Geier wo. Ich will es mir gar nicht vorstellen. Unser Zuhause ist jetzt konterminiert.
Eine rote Linie ist überschritten. Du hast mit Mike die Bretterkiste unserer Beziehung
gezimmert, legte er sich als Satz zurecht, ohne zu wissen, ob er ihn jemals aussprechen
wird. Sylvia sah ihm jetzt in die Augen. Sie waren feucht. Eine kleine Träne lief
über die Wange.
„Ich kann´s dir nicht erklären. Nicht so, dass du es verstehst“ sagte sie schließlich.
Er fragte sich, was schwerer wiegt. Die Tatsache an sich, oder dass er es nun
wusste. Sie hatten sich immer dafür ausgesprochen, dass sie Transparenz leben,
wenn es darum geht, wann sie sich mit wem treffen. Aber Details, insbesondere derartige,
die wollten sie sich nie erzählen. Wenn es passieren sollte, achten sie auf die
Gesundheit. Aber erzählen sich das nicht. Sie hielten das Wissen für schwerwiegender
als die Sache an sich. Dafür muss man sich aber etwas mehr Mühe geben,
dachte er und schon gar nicht die eigene Wohnung nutzen. Das war sicher ein
schmaler Grad. Eine ganz offene Beziehung wollten sie nicht. Aber sie waren sich
darüber im Klaren, dass die Versuchung an sie herantreten kann. Insbesondere,
wenn ihre Beziehung, was sie sich beide wünschten, über Jahre und Jahrzehnte
bestehen würde. Und sie konnten es nie verstehen, dass Paare auseinanderbrechen,
trotz jahrelanger aufgebauter Basis, nur weil ein Teil mal eine Affäre hatte. Das
konnte nicht richtig sein. Und außerdem ist Sex das größte Geschenk nach dem
Leben selbst. Und es kann immer sein, dass die Versuchung an einen herantritt.
Davor ist niemand gefeit. Schon morgen früh beim Bäcker kann uns jemand
begegnen und es macht ein bisschen „Klick“.
„Mike ist kein Nebenbuhler für dich. Das musst du mir glauben. Und dass es hier
passiert ist, tut mir unendlich leid. Dafür fühle ich mich schäbig und bin unfassbar
traurig, dass ich dir das angetan habe.“ Jetzt liefen die Tränen aus beiden Augen
über ihre Wangen. „Ich weiß nicht, was sich genau verändert hat. Mike wollte sich
nur ein Buch ausleihen, über das wir gesprochen hatten. Und dann haben wir einen
Kaffee getrunken und über den Autor diskutiert. Ich hätte noch 5 Minuten vorher
gewettet, dass ich nie mit Mike was anfangen würde. Doch dann ist es passiert. Ich
habe keine Erklärung dafür. Wir machen das ganze Wohnzimmer neu. Das Sofa
kommt weg. Und die Regale auch. Und der Teppich. Den mochtest du ja sowieso
nicht so richtig. Wir streichen die Wände und holen uns neue Pflanzen. Und das
Buch will ich nie wiederhaben. Das kann er behalten. Ich suche mir einen neuen
Sqash-Partner. Laura spielt auch immer. Die aus meiner Firma. Dann frage ich die
mal. Außerdem geht die in das andere Center. Der Weg ist für mich umständlicher,
aber ich mache das für uns. Du kannst den ganzen WhatsApp-Verlauf mit Mike
lesen, wenn du möchtest. Du wirst nicht ein Liebesgesäusel finden. Das, was passiert
ist, ist einmalig und kommt nie wieder vor. Ich werde mich bis auf Weiteres von
ihm fernhalten. Und vielleicht fällt dir noch etwas ein, was ich tun kann, dann sag es
einfach und ich versuche auch das zu machen.“
Er konnte ihre Not verstehen. Sie war komplett im Stress. Bestimmt war es auch
schön gewesen, mit Mike zu schlafen. Und doch steckte in diesem Schönen der
Keim der Zerstörung und den versuchte sie gerade zu ersticken. Das Koordinatensystem
war verrutscht. Ihre Reue war aufrichtig. Es gibt kaum eine vergleichbare
Situation, wo sich so grundsätzlich entgegengesetzte Gefühle begegnen. Die Euphorie
des Beischlafes mit der Angst, das daraus Folgen entstehen, die das ganze
Leben auf den Kopf stellen können. Gleichwohl spürte auch er den Schmerz, die Wut
und die Trauer.
„Ich werde mal schauen, ob Franks Wohnung gerade zu haben ist“ hörte er sich
sagen. „Der ist meines Wissens wieder auf Montage. Und dann gehe ich da mal für
ein paar Tage hin, bis sich alles etwas gelegt hat. Danach sehen wir weiter.“ Er zog
aus der Kleenex-Box ein Tuch und reichte es ihr.